Dr. Marcel Sebastian: "Cultural and Institutional Frames of Human-Animal Relations"
Dissertation eingereicht an der Universität Hamburg am 18.5.2020, Disputation am 8.1.2021, Promotion mit ‚summa cum laude‘
Erstgutachterin und -betreuerin: Prof. Dr. Birgit Pfau-Effinger
Zweitbetreuer: Prof. Dr. Harald Welzer
Zweitgutachter Prof. Dr. Peter Niesen
Drittgutachterin Prof. Dr. Mieke Roscher
Zusammenfassung
Die Dissertation "Cultural and Institutional Frames of Human-Animal Relations" beschäftigt sich mit der kulturellen Rahmung des Mensch-Tier-Verhältnisses und deren Bedeutung für die institutionelle Rahmung des Mensch-Tier-Verhältnisses und das Handeln von Akteuren. Sie untersucht damit einen Gegenstand, der soziologisch bisher nur unzureichend erforscht wurde. Der Wandel in der kulturellen Rahmung der gesellschaftlichen Beziehung zu Tieren, insbesondere zu domestizierten Tieren, führt dazu, dass wesentliche Aspekte der Mensch-Tier-Beziehung in westlichen Gesellschaften gegenwärtig kontrovers und öffentlich verhandelt werden. Dies betrifft etwa Debatten über die Legitimität unterschiedlicher Formen der Behandlung von Tieren oder der Ausgestaltung von Tierschutzgesetzen. Die Arbeit behandelt somit ein Thema von hoher sozialer Relevanz.
Die Doktorarbeit trägt auf Basis von sechs Texten zur Analyse der kulturellen Rahmung des Mensch-Tier-Verhältnisses und deren Bedeutung für Institutionen und Akteurshandeln bei und beantwortet drei übergeordnete Forschungsfragen:
- Welche theoretischen Konzepte eignen sich, um den kulturellen Wandel im Mensch-Tier-Verhältnis zu analysieren?
- Welche Bedeutung hat die kulturelle Rahmung des Mensch-Tier-Verhältnisses für den institutionellen Wandel im Tierschutzrecht?
- Welche Bedeutung hat die kulturelle Rahmung des Mensch-Tier-Verhältnisses für die Umgangsweisen von Individuen mit den Ambivalenzen im Mensch-Tier-Verhältnis?
Damit untersucht sie die Mensch-Tier-Beziehung sowohl auf der Makroebene, indem sie den Wandel der institutionellen Rahmung des Mensch-Tier-Verhältnisses analysiert, als auch auf der Mikroebene, indem sie das Handeln von Akteuren vor dem Hintergrund des kulturellen Wandels auf der gesellschaftlichen Ebene und der zunehmenden Diversität kultureller Ideen zur Mensch-Tier-Beziehung untersucht. Zudem leistet sie einen Beitrag zur theoretischen Diskussion über die kulturelle Rahmung von Mensch-Tier-Beziehungen.
Der theoretische Rahmen der Dissertation setzt daran an, dass die Gesellschaft zwischen unterschiedlichen Kategorien von Tieren differenziert (Morgan/Cole 2011; Sebastian 2019). In der Dissertation wird argumentiert, dass diese Kategorisierung auf einer kulturellen Differenzierung beruht, die hier in Anlehnung an Steensland (2006) als eine Konstellation "kultureller Kategorien" definiert wird.
Auf Basis dieser Überlegungen werden die folgenden übergeordnete forschungsleitenden Annahmen zugrunde gelegt:
(1) Die theoretische Berücksichtigung der Differenzierung zwischen ‚kulturellen Kategorien‘ im Mensch-Tier-Verhältnis ist für die Analyse von kulturellem Wandel im Verhältnis der Gesellschaft zu den Tieren fruchtbar.
(2) Die Differenzierung zwischen ‚kulturellen Kategorien‘ im Mensch-Tier-Verhältnis bietet eine geeignete theoretische Grundlage dafür, Persistenz und Wandel in der institutionellen Rahmung des Mensch-Tier-Verhältnisses zu erklären.
(3) Die Differenzierung zwischen ‚kulturellen Kategorien‘ im Mensch-Tier-Verhältnis bietet auch eine geeignete theoretische Grundlage dafür, das Handeln individueller Akteure auf der Mikroebene zu erklären.
Die sechs Texte, auf denen diese Dissertation basiert, leisten jeweils einen Beitrag zur Beantwortung der unterschiedlichen, übergeordneten Forschungsfragen sowie zur Überprüfung der übergeordneten forschungsleitenden Annahmen. Dafür nutzen sie unterschiedliche Methoden der empirischen Sozialforschung zur Auswertung unterschiedlicher empirischer Datensätze. Zum einen wurden problemzentrierte Interviews mithilfe der inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse und der qualitativen Typenbildung ausgewertet. Zum anderen wurden historische Politikdokumente der Regierung und der Parlamente mithilfe der Methode des Process Tracing analysiert.
Die erste übergeordneten Forschungsfrage wird auf Basis von zwei theoretischen Artikeln beantwortet. Der erste Artikel beinhaltet eine theoretische Reflexion über die Möglichkeit der Anwendung des theoretischen Konzepts der "kulturellen Kategorien" auf den Wandel im Mensch-Tier-Verhältnis. Es wird ein neuer theoretischer Rahmen zur Analyse von kulturellem Wandel durch den Wandel kultureller Kategorien vorgeschlagen und anhand historischer Beispiele zum kulturellen Wandel im Mensch-Tier-Verhältnis diskutiert. Der zweite Artikel diskutiert, inwiefern der kulturelle Wandel in der Beziehung der Gesellschaft zu Tieren als Ambivalenz interpretiert werden kann und welche Rolle dabei der Wandel in den kulturellen Ideen gegenüber den kulturellen Kategorien ‚Haustier‘ und ‚Nutztier‘ spielt.
Zur Beantwortung der zweiten übergeordneten Forschungsfrage werden die Ergebnisse von zwei historischen Fallstudien zum Einfluss von Kultur auf den Institutionenwandel im Mensch-Tier-Verhältnis vorgestellt, die sich auf die Entwicklung der Politiken zum Verbot des Tötens von Hunden zum Verzehr beziehen. Die Studien beruhen auf Dokumentenanalysen umfangreicher Sammlungen historischer Politikdokumente der Regierung und der Parlamente, die mit Hilfe der Process Tracing Methode ausgewertet wurden.
Zur Beantwortung der dritten Forschungsfrage werden die Ergebnisse einer Studie zum Umgang mit den spezifischen Herausforderungen der Arbeit von Schlachtern diskutiert, die auf problemzentrierten Leitfaden-Interviews mit Schlachthofarbeitern (1) beruht. Die Interviews wurden mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse und der qualitativen Typenbildung ausgewertet. Für Schlachthofarbeiter ergeben sich spezifische Herausforderungen dadurch, dass sie am Prozess der Tötung von Tieren beteiligt sind. In ihrer Arbeit kommt die widersprüchliche kulturelle Rahmung der gesellschaftlichen Beziehung zu ‚Nutztieren‘ zum Ausdruck. Ihre Arbeit ist Voraussetzung für den hegemonialen Ernährungsstil westlicher Gesellschaften und erfüllt den Wunsch von Konsument/innen nach Fleischprodukten. Schlachthofarbeit wird jedoch durch die Öffentlichkeit zunehmend kritisch betrachtet und neue kulturelle Ideen gegenüber Tieren führen zu einer verstärkten Notwendigkeit, die Behandlung von Tieren im Schlachthof gegenüber der Gesellschaft zu legitimieren. Darüber hinaus müssen Schlachter in der Lage sein, die an sie gestellten emotionalen Anforderungen ihrer Arbeit im Hinblick auf das Töten von Tieren zu erfüllen.
Die Dissertation konnte Beiträge zur Weiterentwicklung der soziologischen Forschung leisten. Sie leistet einen wesentlichen neuen wissenschaftlichen Beitrag zum Verhältnis zwischen dem kulturellen Wandel und dem Wandel von Institutionen und von Akteurshandeln in Bezug auf das Verhältnis der Menschen zu den Tieren. Sie entwickelt weiter auch einen eigenen neuen Beitrag zur Weiterentwicklung des theoretischen Konzepts der "kulturellen Kategorien" für die Analyse kulturellen Wandels und des Wandels von Institutionen. Sie leistet auch einen eigenen Beitrag zur Weiterentwicklung der theoretischen Diskussion über die kulturellen Rahmungen der Mensch-Tier-Beziehung. Ferner trägt sie auch zur Weiterentwicklung der Forschung zum Einfluss sozialer Bewegungen auf Institutionenwandel bei. Sie entwickelt darüber hinaus einen Ansatz zur Erklärung institutioneller Persistenz trotz starkem Änderungsdruck. Weiter leistet sie auch einen Beitrag zur Soziologie der Arbeit und zur Stigmaforschung, indem sie eine neue Typologie zum Umgang mit moralischer Stigmatisierung im Kontext von Arbeit vorschlägt. Ferner leistet sie einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung der Forschung zu Emotionsarbeit, indem sie einen bisher wenig untersuchten Typ von Emotionsarbeit – das Nicht-Ausdrücken negativer Emotionen während der Arbeit – analysiert.
Fußnoten
(1) Die Interviews, die als Datengrundlage der zwei Artikel dienen, wurden ausschließlich mit männlichen Schlachthofarbeitern geführt, sodass hier die männliche Form genutzt wird.