Ringvorlesung "Fortschritt"

Fortschritt ist etwas Positives, zumindest entsteht dieser Eindruck, wenn der Begriff im Internet gesucht wird. Fortschritt ist besser als Rückschritt oder Stillstand, Fortschritt ist notwendig für Weiterentwicklung, Fortschritt eröffnet neue Perspektiven und Möglichkeiten, Fortschritt bedeutet Vorankommen. Dies ist keineswegs eine moderne Lesart, schon 1891 formulierte der irische Autor Oscar Wilde: "Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien."

Fortschritt war der Name eines Landmaschinenwerkes der DDR …

 Eine etwas längere Beschäftigung mit dem Konzept des Fortschritts führt dann aber auch zu ganz anderen Perspektiven: hier werden dann die möglichen Kehrseiten des Fortschritts angesprochen und eine naive Fortschrittsgläubigkeit in Frage gestellt. Fortschritt ist also nicht notwendigerweise "Mehr" oder "Weiter" oder "Besser". Damit stellt sich aber die Frage, was Fortschritt wirklich ist, wie dieser beschrieben werden kann und welche Perspektiven verschiedene Disziplinen auf ihn entwickelt haben. Derartige Fortschrittsdiskussionen werden Beitragende der Ringvorlesung sowohl im Hinblick auf das eigene Fach, aber auch auf dessen gesellschaftliche Wirkung vorstellen.

Aber vielleicht gilt auch: "Fortschritt ist der Taumel von einem Irrtum zum nächsten" (H. Ibsen)

Programm

Termin

Vortragende*r

Titel

11.03.

Prof. Dr. Sybille Bauriedl,
Abteilung Geographie

Fortschritt in die Klimakatastrophe?

Seit einigen Monaten protestieren weltweit immer mehr Schülerinnen und Schüler dagegen, dass sie im Jahr 2050 mit einer Klimakatastrophe leben müssen. Sie fordern von der aktuellen Generation der Entscheidungsträger, die Sorgen der zukünftigen Generation ernst zu nehmen. Mit dieser Forderung steht auch das Fortschrittsideal der heutigen Generation zur Diskussion.

Die Nicht-Nachhaltigkeit des aktuellen Wirtschaftssystems, das auf einem technologieoptimistischen, permanenten Wachstum der Produktion und des Konsums basiert, ist wissenschaftlich nachgewiesen. Es führt sogar zu einem weiter zunehmenden Ressourcenverbrauch mit beschleunigten negativen Effekten für unsere Umwelt. Warum findet eine Abkehr von diesem ressourcenintensiven Fortschrittsmodell dennoch nicht statt? Seit 1992 gibt es internationale Vereinbarungen zum Klimaschutz, die auf eine freiwillige Reduktion von Treibhausgasemissionen hoffen und auf technologische Innovationen für eine emissionsfreie Energieversorgung setzten. Diese Strategien haben den Klimawandel in den letzten 27 Jahren nicht bremsen können.

Der Vortrag stellt die aktuelle Debatte um technologischen und gesellschaftlichen Fortschritt in der Umweltpolitik und der Transformationsforschung vor und zeigt, warum eine nachhaltige Zukunftsgestaltung so schwierig und immer notwendiger ist.

25.03.

Prof. Dr. David Schweikard,
Philosophisches Seminar

Klarer Fall?
Die Europäische Union und der politische Fortschritt

Wer wird schon bestreiten, dass sich parallel zur Entstehung der Europäischen Union praktisch überall auf dem Kontinent mehr ökonomischer Wohlstand, politische Stabilität und Frieden eingestellt hat? Immerhin ist die EU explizit auf ökonomischen, sozialen und technischen Fortschritt ebenso ausgerichtet wie auf die Wahrung von Frieden, Freiheit und Solidarität, und ihr Wirken zeitigt in nahezu allen Bereichen beachtliche Resultate. - In diesem Vortrag wird der Frage nachgegangen, inwiefern die EU jenseits der Orientierung an Wirtschaftswachstum auch für politischen Fortschritt steht. Dazu wird auf klassische Fortschrittstheorien von der Aufklärung bis zu Adorno zurückgegriffen und ein genauerer Blick auf die aktuelle politische Struktur der EU geworfen.

08.04.

Nils Düster,
Leiter Servicezentrum für Prüfungsangelegenheiten

Fortschritt im Recht?
Von Zeitgeist und Besitzstandswahrung

Nicht nur die Politik als normsetzende Instanz lenkt die Verwaltung, auch die Verwaltung lenkt die Politik. In diesem Wechselspiel der Akteure, in dem die Legislative eigentlich die treibende, die Exekutive die ausführende Kraft sein soll, kann an vielen Stellen eine gewisse Behäbigkeit erahnt werden: Rechtssätze des römischen Rechts haben sich bis heute erhalten, das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten wird auch aktuell in einigen Fällen bei Rechtsstreitigkeiten vor Gericht hervorgeholt, Art. 140 des Grundgesetztes zieht Teile der Weimarer Reichsverfassung als geltendes Verfassungsrecht in die Gegenwart, das Strafgesetzbuch ist von 1871, das Bürgerliche Gesetzbuch von 1896. Dies alles klingt nicht sonderlich nach Fortschritt und Innovation, sondern nach konservativer Besitzstandswahrung. Dennoch unterliegt das Recht und seine Auslegung fast unbemerkt dem jeweiligen Zeitgeist und führt selbst bei gleichbleibendem Wortlaut zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Die Makroperspektive hilft dabei, diese langsamen Veränderungen zu deuten und zu verstehen. Heribert Prantl hat in seinem Nachruf auf den kürzlich verstorbenen Rechtsgelehrte Ernst-Wolfgang Böckenförde an dessen Formulierung eines modernen Anspruchs an die Anwender des Rechts erinnert: Ein Jurist weist, indem er nach dem Recht sucht, es gestaltet und anwendet, die Träger der Macht in die Grenzen. Gerade in einem selbstorganisierenden System wie einer Universität ist dies eine spannende Herausforderung.

06.05.

Prof. Dr. Hauke Brunkhorst,
Seminar für Soziologie

Demokratischer Fortschritt – Vom progressiven zum regressiven Reformismus und zurück?

Seit Ende des Zeitalters der großen sozialen Revolutionen und Reformen (1850-1950) folgt die Entwicklung des demokratischen und sozialen Staats einer Dialektik von progressivem und regressiven Reformismus. Der progressive Reformismus der Nachkriegsära (1950-1970) unterwarf den Kapitalismus einem Prozess fortschreitender Vergesellschaftung, während der regressive Reformismus der finanzgetriebenen Globalisierung das Vergesellschaftungstempo seit den 1980er Jahren erst verlangsamte, dann umkehrte und den veränderungsresistenten Kern des Sozial- und Wohlfahrtsstaat in ein technokratisches Herrschafts- und Disziplinierungsregime verwandelte. Möglich wurde diese Entwicklung infolge einer nahezu vollständige Entpolitisierung der Öffentlichkeit, die aber am 15. September 2008, als Lehmann-Brothers zusammenbrach, endete. Ob das zu einer Fortsetzung des progressiven Reformismus führt, ist eine offene, also eine politische Frage.

20.05.

Prof. Dr. Uwe Danker,
Seminar für Geschichte und Geschichtsdidaktik

Fortschritt: strauchelnder Leitbegriff der Moderne

Wer von uns ist schon frei davon, an Fortschritt zu glauben? Geht es nicht stetig voran, mit neuer Technik, die den Alltag verschönert, verbesserter medizinischer Versorgung, die das Leben verlängert, immer komplexerer politischer und gesellschaftlicher Organisation, die uns nach den Sternen greifen lässt?

Die historische Entwicklung scheint gradlinig auf unsere Gegenwart hinzustreben, und zwar im Positiven. So empfinden wir, so dachte und schrieb die Geschichtswissenschaft über Jahrhunderte, und manchmal auch heute noch. – Wenn es da nicht die wachsenden Zweifel gäbe, die Rückschläge, die fehlgegangen Prognosen, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen...

03.06.

Dr. Jan Frercks,
Abteilung für Physik und ihre Didaktik und Geschichte

Ungenauigkeit als Fortschritt:
Über die Empfehlung von Naturkonstanten

Vor ein paar Jahren passierte in der Physik etwas Seltsames: Der offiziell empfohlene Wert der Gravitationskonstante war plötzlich ungenauer als vier Jahre zuvor. Wie ist es möglich, dass man den Wert einer Naturkonstante nicht mehr so genau kennt, wie man ihn schon einmal kannte? Ist das Messen einer Naturkonstante nicht einer der wenigen Bereiche, wo es nur Fortschritt, keinen Rückschritt geben kann? Und warum muss man Naturkonstanten empfehlen? Eine Recherche nach Texten, Experimenten, Personen und Institutionen bringt einige Klärung und bietet exemplarisch einen Einblick in die internen Mechanismen der modernen Naturwissenschaften.

17.06.

Dr. Sibylle Machat,
Seminar für Anglistik & Amerikanistik

In Zukunft wird alles besser!?
Fortschrittsthematik im Science Fiction Film

Wenn man sich mit Definitionen von "Science Fiction" beschäftigt, trifft man früher oder später auf die Information, dass sich dieses Genre mit einer Weiterentwicklung (meist technischer/wissenschaftlicher Art, oder zumindest einer technologisch bedingten Weiterentwicklung) von eines Gegenstandes/einer Gesellschaft/… beschäftigt. Aber: handelt es sich bei dieser Weiterentwicklung auch um einen Fortschritt? Dieser Vortrag beschäftigt sich, an Hand von Science Fiction Filmen der letzten 100 Jahre, mit eben dieser Frage. Zuhörer*innen bekommen sowohl einen Überblick über die Verhandlung der Fortschrittsthematik im Science Fiction Film allgemein, als auch eine exemplarische Detailanalyse ausgewählter Szenen aus verschiedenen Science Fiction Filmen, die sich zentral mit der Fortschrittsthematik beschäftigen und anhand derer die Darstellung eben dieser Thematik am Exempel diskutiert wird.

Bildmaterial