Unverfügbarkeit II - Pandemische Zeiten

Nach fast zwei Jahren Pause setzen wir die Flensburger Ringvorlesung mit "Unverfügbarkeit II – Pandemische Zeiten" fort!

Die letzte Veranstaltungsreihe zum Thema "Unverfügbarkeit" begann mit folgender Ankündigung:

Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa hat sich seit geraumer Zeit mit Fragen von Kontrolle und Glück und dem Verhältnis der beiden zueinander beschäftigt. In seinem neuen Band "Unverfügbarkeit" stellt er als eine zentrale These auf, dass die Menschen in der modernen Welt immer mehr verfügbare Möglichkeiten haben und vermeintlich ihr Glück über diese Verfügbarkeiten finden. Andererseits sei es gerade das Unverfügbare, welches beim Eintreten zu wahren Glücksmomenten führt, da es die Distanz zwischen Mensch und Welt durch seine Unkontrollierbarkeit verringert.

Das war vor der Pandemie. In pandemischen Zeiten wird diese permanente Verfügbarkeit in vielen Bereichen in Frage gestellt und die neu entstandene Unverfügbarkeit als Mangel deklariert oder Einschränkung angesehen.

Vieles, was bisher verfügbar war wird plötzlich unverfügbar, und das Eintreten von Unverfügbarkeit ist nicht notwendigerweise mit Glückmomenten verknüpft. Bisher wie selbstverständlich Verfügbares wird hinterfragt, und je nach Interessenslage als unabdingbar oder überflüssig deklariert. So werden z.B. Bundesligaspieltage, Formel-1-Rennen, Opernaufführungen und Ausstellungseröffnungen nicht in gleicher Weise in Frage gestellt und (un)verfügbar gemacht. Verfügbarkeiten verändern sich, analog unverfügbares wird teilweise digital verfügbar gemacht: Reale Erlebnisse werden in den virtuellen Raum verschoben und so auch neue Nutzer*innengruppen zugänglich – und bringen immer irgendwie die Frage nach ihrer Identität und Abgrenzung/Entgrenzung mit sich.

Wie blicken wir nun, nach eineinhalb Jahren der Pandemie, auf das Zusammenspiel von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit, deren Priorisierung und den hiermit eingehengend Glücksmomenten? Bedingt nicht die Verfügbarkeit von Vielem den Reiz, den die Unverfügbarkeit von Manchem ausmacht?

Zu Teil 1 der Ringvorlesung schrieben wir im Sommer 2019 als Erläuterung der Begriffe "Verfügbarkeit" und "Unverfügbarkeit", dass "ein an Rosa sehr eng angelehntes Beispiel für eine solche "Unverfügbarkeit" […] eine weiße Weihnacht in Flensburg [sei] – jede und jeder kann sich wohl die Glücksgefühle vorstellen, die Menschen haben, wenn es am Nachmittag des 24. Dezembers anfängt zu schneien. Ideal verfügbar dagegen wäre ein Pizzalieferservice, der 24 Stunden an 365 Tagen die Auswahl unter 100 verschiedene Pizzen ermöglicht. Und was macht das mit den Menschen …"

In der Ringvorlesungsreihe "Unverfügbarkeit II" kommen drei Vortragende zu Wort, die bereits in Teil 1 der Ringvorlesung einen Vortrag gehalten haben – sie werden ihre Gedanken und Aussagen aus dem Herbst 2019 aus der Perspektive des Herbstes 2021 einordnen und neu einschätzen. Ebenso kommen drei Kolleg*innen zu Wort, die neu zur Ringvorlesung "Unverfügbarkeit" stoßen – und sich mit der Covid-19-Pandemie aus der Perspektive ihres Faches auseinandersetzen, und neue Fragen und Blicke auf Fragen der Un-/Verfügbarkeit werden.

Insofern versucht die Ringvorlesung in diesem Semester Fragen von (Un)verfügbarkeit in pandemischen Zeiten zugänglich zu machen.

Termine

Termin Vortragende*r Titel des Vortrags
27.09. Dr. Bernd Sommer,

Norbert Elias Center for Transformation Design & Research (NEC),
Europa-Universität Flensburg

Corona und die Wiederkehr der Unverfügbarkeit als ‚Monster‘

Der Soziologe Harmut Rosa argumentiert, dass moderne Gesellschaften darauf zielen, immer mehr Welt verfügbar zu machen. Die Auswirkungen des modernen Verfügbarkeitsbestrebens kehren nach Rosa aber wie ein Bumerang als gesellschaftliche Krisen zurück. In Anlehnung an Bruno Latour bezeichnet Rosa dies als Rückkehr der Unverfügbarkeit als "Monster". Im Lichte dieser Überlegungen formuliert Bernd Sommer in seinem Vortrag einige Thesen zur Corona-Pandemie.

11.10. Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer,

Institute for Interdisciplinary Research on Conflict and Violence,
Universität Bielefeld

Rechte Bedrohungsallianzen in Zeiten der Pandemie

Die Bedrohung der offenen Gesellschaft und der liberalen Demokratie hat in Zeiten der Pandemie durch Qualitätsveränderungen des rechten Spektrums  und neuen Bedrohungsallianzen weitere Varianten erhalten. Dabei muss auch der Blick auf die Rolle von roher Bürgerlichkeit gerichtet werden.

25.10.

Prof. Dr. Pao-Yu Oei,

Abteilung Energie- und Umweltmanagement,
Europa-Universität Flensburg

Wie gelingt der Verzicht auf Kohle, Gas und Öl zur Abkehr der Klimakrise?

Wir erleben inzwischen auch in Deutschland die Veränderungen des Klimas. Daher fordert die Jugend den schnellstmöglichen Kohleausstieg. Gleichzeitig stockt aber der Ausbau Erneuerbarer Energien. Parallel haben steigende Benzin und Heizölpreise direkte Auswirkungen auf unseren Geldbeutel. Deshalb diskutieren wir "Wie gelingt der Verzicht auf Kohle, Gas und Öl zur Abkehr der Klimakrise?"

Hier können Sie die Folien von Prof. Oei herunterladen.

08.11.

Dr. Pascal Delhom,

Philosophisches Seminar,
Europa-Universität Flensburg

Von Fenster zu Fenster ohne Raum dazwischen - Aspekte der Raumwahrnehmung in digitalem Format

Die audiovisuelle Technik der virtuellen Kommunikation, mit deren Anwendung wir seit mehr als einem Jahr vertraut geworden sind, kann als ein Wunder angesehen werden. Sie gewährt uns einen Zugang zu dem, was wir leiblich nicht erreichen können. Und sie vereint vor unseren Augen und für unsere Ohren Räume, oder zumindest Raumabschnitte, die unüberwindbar voneinander getrennt sind. Doch sie verändert zugleich maßgeblich unser Verhältnis zu den Objekten unserer Wahrnehmung und zu den Menschen, mit denen wir kommunizieren. Wir nehmen sie nicht (nur) mit unseren leiblichen Sinnen wahr, sondern durch die Vermittlung von Mikro und Kamera als externalisierten Sinnen am anderen Ende von virtuellen Verbindungen. Die Öffnung des "Fensters" erweitert nicht die Perspektive unseres Leibes. Sie schafft keinen gemeinsamen Raum, in dem wir uns bewegen, Positionen einnehmen und Perspektiven ändern können. Und dennoch sehen und hören wir die anderen, wir werden von ihnen gesehen und gehört, nur anders. Dies zu beschreiben ist das Anliegen meines Vortrags.

22.11.

Prof. Dr. Birgit Däwes,

Seminar für Anglistik & Amerikanistik,
Europa-Universität Flensburg

Edgar Allan Poes Quarantäne: Masken und Erzählmuster in amerikanischer Pandemieliteratur

Seit dem Beginn der Coronapandemie im Frühjahr 2020 sind Masken ein Standard sozialer Begegnungen geworden. Als sichtbare Zeichen von Schutz und Begrenzung symbolisieren sie das Risiko, mit dem öffentliches Leben seither behaftet ist. Sie machen Menschen für keimtragende Aerosole "unverfügbar"; gleichzeitig verbergen sie zumindest teilweise die verfügbaren Gesichtsmerkmale, die für Prozesse von Identifizierung, Erkennen und Kommunikation zwischen Menschen essenziell sind.

Pandemien an sich sind für die Menschheit natürlich nicht neu, und die amerikanische Literatur und Populärkultur haben in vielfältiger Weise Narrative und Erzählmuster zur kulturellen Verarbeitung von Infektionswellen beigetragen. Eine amerikanische Pandemieerzählung, in der Masken eine besondere Rolle spielen, ist Edgar Allan Poes Kurzgeschichte "The Masque of the Red Death" von 1842. Anhand dieser Geschichte, die vor der Entwicklung der modernen Medizin entstand, wird der Vortrag zeigen, welche Erzählmuster sich in zeitgenössischen amerikanischen Romanen und Fernsehserien im Umgang mit Pandemien ausmachen lassen. Poes Masken sind dabei nicht nur Requisite oder medizinisches Signal, sie symbolisieren zudem, was Literatur im Hinblick auf die kulturelle Verarbeitung von Pandemie leisten kann – und was sie häufig im Verborgenen belässt.

06.12.

Prof. Dr. Tabea Scheel,

Abteilung Arbeits- und Organisationspsychologie,
Europa-Universität Flensburg

Unverfügbar, aber erreichbar. Kontrolle als Schlüssel zum Glück für Arbeit sowie HomeOffice

Die nationalen Regelungen als Reaktion auf die Corona-Pandemie ab März 2020 haben auf einen Schlag einen großen Teil des scheinbar selbstverständlich verfügbaren Lebensradius unverfügbar gemacht. Paradoxerweise wurde gleichzeitig die eigene Verfügbarkeit für Andere unkontrollierbar gesteigert: Eltern für ihre Kinder; Erwerbstätige für ihre Führungskräfte, aber auch für die digital nun allgegenwärtige Arbeit – Stichwort HomeOffice. Die psychischen Konsequenzen sind teilweise fatal. Die Kontrolle über die eigene Verfügbarkeit (wieder) zu erlangen, dabei aber erreichbar zu bleiben, kann auch über Corona hinaus ein wichtiger Schritt zurück zum Glück sein.