Mehr Migration, weniger Integration?
DFG-Projekt untersucht die Effekte der EU-Personenfreizügigkeit auf die Einstellung zur EU-Integration in den Herkunftsländern
Wie hängen Personenfreizügigkeit der EU und Einstellungen zur EU-Integration zusammen? Dieser Frage geht ein gemeinsames Forschungsprojekt von Europa-Universität Flensburg (EUF) und Universität Bremen nach. In dem Projekt "Paradoxien der EU-Freizügigkeit. Präferenzbildungsprozesse für und gegen Europäische Integration" untersuchen Christof Roos, Professor für European and Global Governance an der EUF, und Dr. Martin Seeliger, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeit und Wirtschaft in Bremen, die Frage, wie sich Migration auf die Herkunftsländer auswirkt, also auf die – meist süd- und osteuropäischen - EU-Länder, aus denen Personen in andere EU-Länder abwandern. "Eine zentrale Annahme der EU-Integrationstheorie ist, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen Personenfreizügigkeit und europäischer Integration gibt", erklärt Christof Roos. "Die entsprechende Forschung hat sich jedoch bisher meist auf die Effekte der Freizügigkeit in den Aufnahmegesellschaften konzentriert. Die Auswirkungen der EU-Freizügigkeit auf die EU-Herkunftsländer sind jedoch bislang kaum erforscht. Diese Forschungslücke wollen wir schließen."
Die Anzahl der EU-Bürger*innen, die ihr Recht auf Personenfreizügigkeit innerhalb der EU wahrnehmen, hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich erhöht. "Wir fragen nun danach, welche konkreten Effekte die Personenfreizügigkeit auf die Herkunftsgesellschaften von EU-Migrantinnen und -Migranten hat, auf den Arbeitsmarkt, aber auch auf den zivilgesellschaftlichen Zusammenhalt sowie das Selbstverständnis von Kultur und Gesellschaft. Und wir fragen danach, ob sich diese Effekte in den Einstellungen kollektiver Akteure - wie beispielsweise Regierungen, Ministerialbürokratien und Parteien - zur EU-Integration manifestieren. Wir wollen herausfinden, ob und wie die Personenfreizügigkeit und ihre Auswirkungen in süd- und osteuropäischen Gesellschaften EU-Integration, EU-Skepsis oder eine Reformagenda fördern", erläutert Roos.
Die vergleichende Forschung des Projekts konzentriert sich dabei auf drei EU-Mitgliedsstaaten, die gemessen an ihrer Bevölkerungszahl derzeit zu den Hauptherkunftsländern der EU-Migration zählen: Litauen (11%), Portugal (10%) und Rumänien (16%) (Eurostat 2019).
Die Forschung verläuft entlang zweier Forschungsfragen: In einem ersten Schritt untersucht das Projekt, wie die kollektiven Akteure in den EU-Herkunftsländern die Auswirkungen der Personenfreizügigkeit wahrnehmen. "Aus der Analyse der Literatur wissen wir, dass das Thema Auswanderung sehr unterschiedlich in den Fallländern besprochen wird, in Rumänien gibt es eine Debatte, auch in Portugal, in Litauen eher weniger. Nicht alle Akteure, parteipolitisch oder gesellschaftlich, greifen das Thema auf, wir wollen wissen warum", skizziert Christof Roos das weitere Vorhaben.
In einer zweiten Frage wollen die Forscherinnen und Forscher wissen, wie die Praxis der Freizügigkeit die Einstellung zur EU-Integration beeinflusst. "Es gibt viele Hinweise auf eine neuere Konfliktlinie zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern. Diese neue gesellschaftliche Konfliktlinie erweitert den Klassenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit um Aspekte der nationalen Identität", erklärt Roos. "In osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten zeigt sich diese Spaltung etwa im Zuspruch nationalkonservativer Parteien. War dort einst das Versprechen der ungehinderten Mobilität eine entscheidende Motivation für den EU-Beitritt, könnte dieser durch anhaltend negative Wahrnehmung an Zustimmung verlieren."
Die Erkenntnis der Wahrnehmung, welche Auswirkungen Freizügigkeit in den Herkunftsländern hat, würde, so die Forscher*innen, einerseits Aussagen über den Zusammenhang zwischen Personenfreizügigkeit und EU-Integration erlauben und andererseits die Möglichkeit bieten, über Strategien der Konfliktlösung im Mehrebenensystem der EU nachzudenken. Neben Christof Roos und Martin Seeliger forschen im Projekt die Doktorandinnen Kseniia Cherniak, Fallstudie Litauen, und Hanna Kieschnick, Fallstudie Rumänien, sowie der Post-Doktorand Max Nagel, Fallstudie Portugal.