"Krieg und Frieden. Zur Produktivität von Krisen und Konflikten": 11. Kongress des Frankoromanistenverbands vom 26. bis 29. September 2018 an der Universität Osnabrück
Sektion im Rahmen des kulturwissenschaftlichen Programms:
Europas Grenzen im Indischen Ozean: Literarische, künstlerische und wissenschaftliche Interventionen im Konflikt um Mayotte
Sektionsleitung: Prof. Dr. Margot Brink (Europa-Universität Flensburg)
Während die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer die Europäische Union intensiv beschäftigt, spielt sich im Indischen Ozean seit Jahren ein humanitäres Drama ab, das im öffentlichen und politischen Diskurs Europas so gut wie keine Aufmerksamkeit findet. Die Insel Mayotte, die geografisch, kulturell und historisch zum Archipel der Komoren gehört und ca. 8000 km von Paris entfernt im Kanal von Mosambik liegt, ist seit 1841 im
(Kolonial-) Besitz Frankreichs, seit 2011 dessen 101. Departement und seit 2014 zudem ein EU-"Gebiet in äußerster Randlage" (GäR). Dieser besondere Status der Insel sowie eine 1995 eingeführte Visumspflicht für die Bewohner_innen der Nachbarinseln haben zu einer massiven illegalisierten Form der Immigration über das Meer nach Mayotte geführt. Nach Schätzungen der französischen Regierung sind seit 1995 etwa 7.000 bis 12.000 Komorer_innen bei diesen Überfahrten ertrunken, nach Angaben der komorischen Regierung sind es hingegen weitaus mehr.
Dies ist nicht nur eine humanitäre Katastrophe, sondern auch ein internationaler Konflikt, insofern die UN, die Afrikanische Union und die Union der Komoren die Zugehörigkeit Mayottes zu Frankreich in einer Vielzahl von Resolutionen als unrechtmäßig verurteilt haben, während Frankreich und die EU Mayotte als integralen Bestandteil des französischen Mutterlandes betrachten bzw. als Teil Europas anerkennen.
"Wie viele Geschichten ist auch die der Europäischen Union eine der Verdrängung ihres Ursprungs", schreibt der Soziologe Hauke Brunkhorst in Das doppelte Gesicht Europas (2014, 11). Verdrängt worden seien die kantische Emanzipationsgeschichte sowie die Geschichte des Kolonialismus und des kolonialen Befreiungskampfes. Daraus sei eine Haltung des "kommunikativen Beschweigens" (ebd.) hervorgegangen. Diese Haltung, so ist in Bezug auf Mayotte zu konstatieren, betrifft auch in hohem Maße den Konflikt, der sich gegenwärtig auf den Komoren abspielt und zu dem man vergebens Debatten und Stellungnahmen von Seiten der EU sucht.
Die frankophonen Literaturen und Künste im Gebiet des Indischen Ozeans und insbesondere auf den Komoren haben jedoch in den letzten Jahren stark dazu beigetragen, diesen Konflikt öffentlich(er) zu machen. Autorinnen und Autoren wie Ali Zamir, Anguille sous roche (2016; Prix Senghor 2016), Nathacha Appanah, Tropique de la violence (2016), Nassuf Djailani, L’Irrisistible nécessité de mordre dans une mangue (2014) oder auch Soef Elbadawi, Un dikhri pour nos morts. La rage entre les dents (2013) haben ganz verschiedene interessante literarische und/oder performative ästhetische Formen für die Thematisierung der Lebensrealitäten, Identitätsentwürfe und Migrationsgeschichten auf den Komoren gefunden und nehmen eine wichtige Vermittler- und Übersetzungsfunktion zwischen Afrika und Europa ein. In den letzten Jahren sind zudem vermehrt komorische Autorinnen wie z.B. Coralie Frei, La perle des Comores (2010) , Touhfat Mouhtare, Ames suspendus (2011), Faïza Soulé Youssouf, Ghizza, à tombeau ouvert (2015) oder die auf Komorisch schreibende Slammerin Halima Mohamed mit ihren Erstling Tsandza (2016) im literarischen Feld der Region in Erscheinung getreten. Diese künstlerisch-literarischen Interventionen haben über das ästhetische Feld hinaus dazu geführt, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den politischen Konflikten, der Kultur und der Geschichte des Komorenarchipels zu intensivieren, auf neue Gebiete auszuweiten und transnationale wissenschaftliche Netzwerke, Forschungs- und Tagungsprojekte zu initiieren. Wie das Feld der komorisch-frankophonen Künste und Literaturen, das sich erst seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt hat, ist auch die Forschung zum Thema ein Feld im Entstehen.
Folgende Perspektiven und Fragen sollen die Sektionsarbeit strukturieren:
1. Migration nach Mayotte – ein verdrängter Konflikt Frankreichs und der EU: Wie wird in den Literaturen, Künsten und in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit der verdrängten, beschwiegenen humanitären Katastrophe auf den Komoren umgegangen? Welche Implikationen und Konsequenzen birgt dieser Konflikt im Hinblick auf die verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Komoren, deren Zusammenleben und deren jeweiligem kulturellen Selbstverständnis?
2. Künstlerisch-literarische und wissenschaftliche Interventionen: Welche verschiedenen inhaltlichen und ästhetischen Formen der künstlerisch-literarischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den politischen Konflikten, den postkolonialen Verwerfungen, der Migration auf dem Komorenarchipel lassen sich beschreiben? Und unter welchen materiellen und politischen Bedingungen entstehen sie und können Wirkung entfalten oder eben auch nicht? Welche Fragestellungen und Ziele verfolgen die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit der Komorenregion gegenwärtig? Inwiefern vermögen inter- und transdisziplinären Ansätze, die auch den Einspruch die Literaturen und Künste berücksichtigen, einen Beitrag zur Lösung der humanitären und politischen Krise der Komorenregion zu leisten?
3. Außen- und Innenperspektive auf Europa: Wie blickt Europa von einem ‚EU-Gebiet in äußerster Randlage‘ von innen und außen zugleich auf sich selbst? Welche Bilder Europas sind in der Literatur, der Kunst sowie in wissenschaftlichen und politischen Diskursen zu finden, die sich mit den Komoren und dem europäisch-französischen Mayotte auseinandersetzen? Zeigt Europa hier sein "doppeltes Gesicht" (Brunkhorst 2014) oder vielleicht eher ein neues Gesicht, dem die Züge des verdrängten Anderen eingeschrieben wären?
4. Konfliktlösungen: Welche Lösungsperspektiven werden für die destabilisierte Komorenregion und das durch Frankeich und die EU erzeugte Problem der Migration in den Literaturen, Künsten und wissenschaftlichen Ansätzen skizziert? Werden solche Lösungsansätze aus dem Feld der Kunst/Literatur/Wissenschaft in den politischen Diskurs vermittelt und, wenn ja, wie? Und wie wird in den afrikanischen und den im Indischen Ozean gelegenen Nachbarstaaten dieser ungelöste postkoloniale Konflikt auf den Komoren reflektiert?
Erwünscht sind Beiträge in französischer oder englischer Sprache aus allen literatur-, sprach- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen, der Philosophie ebenso wie aus den Sozial- und Humanwissenschaften.
Wir bitten um die Zusendung von Vortragsvorschlägen in Form eines Abstracts (max. 300 Wörter inklusive einiger bibliographischer Hinweise) bis zum 15. Januar 2018.
Sie erhalten Nachricht über die Annahme Ihres Vortrags bis spätestens 30. Januar 2018.
Kontakt: Prof. Dr. Margot Brink (mail: margot.brink@uni-flensburg.de), die auch für weitere Fragen gerne zur Verfügung steht.