Arbeitstagung Geschwistersozialisation in Viel-Kind-Familien
06.10. und 07.10.2023 am ZeBUSS der Europa-Universität Flensburg
Zur Idee der Arbeitstagung
Ziel der Arbeitstagung ist es, Forschungsperspektiven auf das Thema "Geschwistersozialisation in Viel-Kind-Familien" zu präsentieren, um Theorien, Befunde und Forschungsfragen zur Diskussion zu stellen. So soll zum einen die Diskussion um die Relevanz von Geschwistern als Sozialisationsort ausgelotet und zum anderen Forschungsbedarfe und -fragen für die spezifische Konstellation der Viel-Kind-Familie identifiziert werden.
Zur inhaltlichen Ausrichtung der Arbeitstagung
Nachdem jahrzehntelang ein Rückgang der Geburtenrate in Deutschland beklagt wurde, taucht in der letzten Zeit bisweilen das Phänomen der Viel-Kinder-Familien im medialen Diskurs insbesondere bei prominenten und kapitalienstarken Eltern auf. Kinderreichtum scheint in der öffentlichen Wahrnehmung für bestimme sozioökonomische Schichten prestigeträchtig. Auf der anderen Seite werden Familien mit vielen Kindern in öffentlichem und wissenschaftlichem Diskurs im Zusammenhang mit Bildungsnachteilen thematisiert. Viele Kinder gelten als Armutsrisiko für prekäre Familien und für Lehrkräfte als Hinweis auf problematische Familienkonstellationen insbesondere im Zusammenhang mit Migrationserfahrung. Sozioökonomisch privilegierte Familien haben das Image besonderer Verantwortung füreinander sowie gegenüber der Reproduktion der Gesellschaft, während bei benachteiligten Familien vor allem die prekäre Lebenssituation im Vordergrund steht.
Laut statistischem Bundesamt leben ca. 28% aller Kinder in Deutschland in Viel-Kind-Familien. In der erziehungswissenschaftlichen Forschung allerdings tauchen diese Viel-Kind-Familien und ihre Geschwisterkonstellationen kaum auf. Die Familienforschung beschäftigt sich ebenfalls nur marginal mit einer eigenständigen Relevanz von Kindern für Familie, sondern erscheint vor allem als Elternforschung. Und auch in der Kindheitsforschung spielen Geschwisterrelationen bisher keine große Rolle.
Neben der Ungleichheitsdimension spielen Geschwister auch in der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen eine zentrale Rolle, da die Eltern notwendigerweise nicht mehr die gleiche Betreuung und Zuwendung leisten können, wenn drei oder mehr Geschwister anwesend sind. Die innerfamiliären Beziehungen vervielfältigen sich und die Bedeutung individueller Beziehungen und generationaler Differenz zu den Eltern nimmt ab. Viel-Kinder-Familien bilden in diesem Sinne generationale Mikroverhältnisse ab, da die Altersunterschiede zwischen Geschwistern Differenz erzeugen, während die Position als Kind in Familie hingegen Gleichheit stiftet. Entsprechend multiplizieren sich Interaktionsbeziehungen und damit auch die Sozialisationsanlässe. Im Gegensatz zu Peer-Beziehungen sind sie nicht frei gewählt, sondern vom Zufall der Geburt abhängig und bestehen zumindest nominell lebenslänglich. Damit stellen Geschwisterrelationen aufgrund dieser spezifischen Näherelationen einerseits einen sozialisatorischen Sonderfall dar und sind andererseits eben aufgrund der großen Nähe und der Dauerhaftigkeit ein prägendes Element von Kindheit und Jugend.
Auch die innerfamiliäre Verantwortung für Erziehung und Fürsorge verschiebt und vervielfältigt sich mutmaßlich, wobei die Dimension aus geschlechtertheoretischer Perspektive unklar ist. Vielfältige Geschwisterrelationen können Möglichkeiten zur Transformation etablierter, vergeschlechtlichter Verantwortungszuschreibungen für Care-Tätigkeiten beinhalten, ebenso könnten diese aber auch bestärkt werden.