Keynotes Speaker
Prof. Dr. Bettina Dausien
Keynote I: Aus Krisen lernen? Überlegungen zum Verhältnis von Krisenerfahrung und Lernprozessen aus einer biographietheoretischen Perspektive
Die Pandemie, die sich zuspitzende Klimasituation oder das Kippen politischer Verhältnisse in Diktatur und Krieg haben in der jüngeren Vergangenheit auch für Bürger im vermeintlich stabilen, demokratischen Europa die Krisenhaftigkeit sozialer Existenz spürbar gemacht. Dabei haben wir nicht nur über Krisen geredet, mediale Diskurse verfolgt und u.U. auch mitgestaltet, sondern auch auf der ganz konkreten Ebene des Alltagslebens selber Krisenerfahrungen gemacht. Krankheit und Tod, die Anforderungen von Homeoffice und distance learning oder auch nur der Umstand, dass selbstverständlich gewordene Aktivitäten nicht mehr möglich sind, haben Routinen unterbrochen und Irritationen, vielfach auch Krisen ausgelöst. Formen der Bearbeitung mussten gefunden werden, oft auch neu entwickelt werden – individuell wie kollektiv. Dabei taucht die Frage auf, ob und was aus solchen Krisen "gelernt" werden kann. Auf den ersten Blick sind die Beobachtungen hierzu recht widersprüchlich: So hatten wir im Umgang mit Corona lange Zeit den Eindruck, dass manche Organisationen und politische Akteure wenig oder zumindest viel zu langsam aus den Erfahrungen etwa der "ersten Welle" gelernt und Fehler wiederholt haben, auf der anderen Seite haben andere wiederum sehr rasch reagiert und neue Strategien und Wege im Umgang mit der Situation gefunden. Und auch im Kleinen, im eigenen Alltag sind die Erfahrungen widersprüchlich: Einige haben den Eindruck "viel" aus der Krise gelernt zu haben, was u.U. sogar weitreichende biographische Pläne und Entwürfe tangiert; dagegen haben andere die Situation möglicherweise überhaupt nicht als Krise erfahren, sondern sind weitgehend mit "bewährten" Handlungs- und Bewältigungsstrategien zurechtgekommen.
Bereits an diese wenigen Beobachtungen lassen sich Fragen für eine bildungswissenschaftliche Rekonstruktion und Reflexion anschließen: Wie hängen Krise und Lernen zusammen? Und wie lassen sich Differenzen im Umgang mit krisenhaften Situationen fassen und womöglich erklären? Wie erleben und verarbeiten soziale Akteur*innen Krisen, auf was greifen sie zurück und wie integrieren sie die neuen Erfahrungen in den größeren Zusammenhang ihrer biographischen Erfahrung und ihres sozialen Netzwerks? Im Vortrag werden diese und weitere Fragen aus der Perspektive der Biographieforschung aufgegriffen und reflektiert. Die Basis dafür bilden ein biographietheoretischer Zugang zum Konzept des Lernens und empirische Beobachtungen zu Bildungsbiographien, in denen Krisen und Übergänge oft eine Rolle spielen. Dabei kommt der erinnernden Rekonstruktion biographischer Erlebnisse und Erfahrungen nicht nur die Bedeutung zu, empirisches Material für die Bearbeitung der gestellten Fragen zu liefern. Biographisches Erinnern und Erzählen wird vielmehr zu einem Modus der Reflexion und des kritischen Überdenkens bisher für selbstverständlich genommener Deutungen und Gewissheiten – und damit zu einem Potenzial für Bildungsprozesse, die gerade im Erwachsenenalter neu und relativ unabhängig von institutionalisiertem Lernen bedeutsam werden.
Bettina Dausien ist Professorin für Pädagogik der Lebensalter an der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien. Dort leitet sie die Abteilung Biographie, Bildung und Gesellschaft.
Prof. Dr. John Preston
Keynote II: Adult education in states of exception: back to the ‘qualitative turn’?
Crisis and disasters, seemingly external to capitalism, are opportunities for experimentation. This includes new pedagogies and educational methods of organisation to enhance labour power and eliminate labour in the interests of capital. Emergencies are used as ‘states of exception’ and this is not just a moment of sovereign power, but also of sovereign experimentation. Adult education is a component of this pedagogical experimentation and elimination. Particularly in terms of public pedagogy, adult education for disasters, crisis and emergencies is a method through which governments and corporations test new modes of population control and biopower. There are many examples of this pedagogical experimentation in disaster education. These include routines and information for population preparedness for nuclear war, emergency information in disasters, and popular cultural forms such as Zombie movies.
The COVID-19 pandemic was a particular period of experimentation for governments and corporations in distance and online education. The twin existential threats of the COVID-19 pandemic and, for capitalist billionaires, the existential threat (or treat) of AI, have accelerated the move towards online learning. Lockdowns and the closure of educational institutions led to the possibility for ‘edutech’ companies to realise the value of their investments. The ideology of many billionaires, that AI will out-compete and overtake human capabilities, was embedded in ideas of the Metaverse and augmented reality learning. The ubiquitous ‘Zoom’, ‘Microsoft Teams’ or ‘Google Hangouts’ lesson has become increasingly normal in adult education. These are not just changed modes of learning but represent an acceleration of work for educators with more production, circulation and consumption taking place in every single second and in virtual and cyber-physical, rather than simply physical spaces.
Through connecting these moments of exception there is continuity in terms of an adult education that increasingly serves the needs of corporations and governments rather than individuals and communities. Adult education becomes increasingly commodified and orientated towards the management of crisis, disasters, and emergencies. To understand this necessitates modes of qualitative analysis that are both humanist and critical. A return to, and a reappraisal of, the ‘qualitative turn’ in educational research is required.
John Preston ist Professor für Soziologie an der University of Essex. Er forscht zur Soziologie von Katastrophen und Notfällen. Er ist der Autor mehrerer Bücher über die Soziologie von Katastrophen, darunter "Disaster Education", "Grenfell Tower: Preparedness, Race and Disaster Capitalism" und "Coronavirus, Class and Mutual Aid in the United Kingdom" (mit Rhiannon Firth). John hat auch viel zu den Themen Kompetenz, Bildung und existenzielle Bedrohung geschrieben. In seinem Buch "Competence Based Education and Training and the End of Human Learning: the Existential Threat of Competency" (Palgrave, 2017) argumentiert er, dass kompetenzbasierte Ansätze für Fähigkeiten und Arbeit nicht mit den modernen Vorstellungen von Pädagogik und Menschlichkeit vereinbar sind. Sein neuestes Buch ist "Artificial Intelligence in the Capitalist University: Academic Labour, Commodification, and Value" (Routledge, 2021).